Rheinischer Merkur
 
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Datum: 05.10.2006


TV-PORTRÄT 
Ein Mann will nach oben

Fast zwei Stunden über und mit Marcel Reich-Ranicki – da liegt der Verdacht der Denkmalpflege nahe. Doch die Filmemacher Lutz Hachmeister und Gert Scobel lassen die Kritikerstatue im Schrank. So entdecken sie Neues bei einem alten Bekannten.

CHRISTIANE FLORIN


Stolze Besitzer: Marcel Reich-Ranicki und seine Frau Teofila in den Sechzigerjahren. 
Foto: ZDF/Privatarchiv 

"Gott ist eine literarische Erfindung“, sagt Marcel Reich-Ranicki. „Es gibt keinen Gott. Das darf man in Deutschland nicht sagen.“ Der Gottesverneiner glaubt an Thomas Mann. Als er dieses atheistische Credo bei den Dreharbeiten ablegt, ist noch keine Rede von kopflosen Opern. Ein trainierter Debattenübersteher wie Reich-Ranicki ahnt eben Megatrends.

Der Christ sagen: Hier irrt der „Literaturpapst“. Dennoch mag sogar manch gläubiger Mensch froh aufhorchen. Endlich ein Prominenter, der sein Selbstbildnis nicht ins spirituelle Wellnessbad taucht. Seit der Komiker Hape Kerkeling beim Pilgern erkannt hat, dass er in einem früheren Leben ein polnischer Mönch war, der von deutschen Soldaten während des Zweiten Weltkriegs erschossen wurde, ist die Wiedergeburtenrate unter den Showbiz-Menschen hoch. Nun darf im deutschen Fernsehen – noch dazu im Johannes-Baptist-Kerner-Sender ZDF – ein 1920 in Polen geborener Mann, der in seinem einzigen Leben beinahe von Deutschen ermordet worden wäre, fast zwei Stunden seine Geschichte erzählen. Eine Sensation!

Schlicht und ergreifend

Gespräche mit Männern um die achtzig bergen ohnehin Sensationspotenzial. Seit dem „FAZ“-Interview mit Günter Grass diskutieren die Feuilletons, ob der Nachname des Großschriftstellers fortan mit Runen-S geschrieben werden muss. Grass – der Täter? Da wäre es ein Knüller, wenn sich endlich der Großkritiker einmischte.

Doch Marcel Reich-Ranicki, der als Überlebender des Warschauer Ghettos die Waffen-SS in bitterer Erinnerung hat, tut Journalisten diesen Gefallen nicht. „Ich, Reich-Ranicki“, heißt der sehenswerte Film von Lutz Hachmeister und Gert Scobel. Nicht „Ich, das Opfer“. Sehr ergreifend sei das Porträt, so behauptet der ZDF-Pressetext news-sehnsüchtig. Aber Hachmeister und Scobel geht es weder um Tränen vor der Kamera noch um televisionäre Denkmalspflege. „Es ist ein großer Vorteil, dass ich vor der Arbeit an diesem Film zu ihm und zum Literaturbetrieb keine Beziehung hatte“, sagt Hachmeister. Der Außenstehende zeigt einen ehrgeizigen Außenseiter, einen von der Society gehätschelten Einsamen, ein großes Kind. Die Deutschen verachteten diesen Jungen, den „dreckigen“ Juden. Als junger Mann hat er sich deshalb im Ghetto zweimal täglich rasiert. Bis heute rasiere er sich zweimal täglich, sagt Marcel Reich-Ranicki.

Sein älterer Bruder Alexander wurde im Arbeitslager Poniatowa erschossen. In seiner Autobiografie „Mein Leben“ erzählte Marcel Reich-Ranicki vom Leid seiner Familie mit klarer, sezierender Sprache. Wie jemand, der irgendwann beschlossen hat, über sich zu reden, ohne alles preiszugeben. Seine Gefühlsausbrüche gelten Autoren und Romanfiguren, nicht seiner Familie. Daran hält er sich, als er sich vor der Kamera an den toten Bruder erinnert.

Der Film mischt Biografie und Kollage, er lässt dem Zuschauer die Freiheit, Bezüge herzustellen. Der Protagonist spricht für sich. Kein Erzähler aus dem Off ordnet das Gesagte ein, nur die Zeitzeugen kommentieren:Reich-Ranickis Sohn Andrew, der Schriftsteller Dieter Wellershoff, „Quartett“-Bube Hellmuth Karasek, „FAZ“-Herausgeber Frank Schirrmacher. Das ZDF hätte gewiss gern hauseigene Showstars wie Elke Heidenreich oder Thomas Gottschalk als Laudatoren untergebracht, solchen Zitat-Tourismus macht RTL in seinen Achtzigerjahre-Shows vor.

Statt Nettigkeitenausteilern haben die Filmemacher den weniger netten Experten Janusz Tycner vor die Kamera geholt. Er spricht über jene Kapitel, bei denen Marcel Reich-Ranicki wortkarg wird:über die Tätigkeit bei der berüchtigten politischen Polizei Polens, über den Konsulardienst im Außenministerium. Tycner stellt das Wort „anschwärzen“ in den Raum, dort schwebt es unwidersprochen.

Im ranickikritischen Zuschauer keimt Vorfreude:Kippt der Film in einen Richterspruch über den Buchrichter?Treten nachher Günter Grass, Martin Walser und Sigrid Löffler als Zeugen der Anklage auf und rächen sich mit frischen Statements für das, was ihnen der begnadete Selbstinszenierer angetan hat?Der Film erinnert an legendäre Kontroversen, an zerbrochene Männerfreundschaften und unzerbrechliche Frauenbilder. Die Gegner treten jedoch nur als Archivmaterial auf. „Sie waren angefragt – und haben abgelehnt“, sagt Lutz Hachmeister. „Auch, wenn sie geredet hätten, wäre aus dem Film keine Abrechnung geworden.“

Suchtstoff Literatur

Die Kollagetechnik verändert den Blick auf Altbekanntes. Der Streit mit Quartett-Dame Sigrid Löffler etwa erscheint nicht nur als Abgrenzungsversuch zwischen Erotik und Zotik, sondern auch als Kampf um die Definitionsmacht. „Ich entscheide, ob einer zur deutschen Literatur gehört“, sagt Marcel Reich-Ranicki, als er über seinen Wechsel von der „Zeit“ zur „FAZ“ spricht. Jahrzehnte später wagt eine Frau, ein von ihm ausgewähltes Buch im Fernsehen als Nicht-Literatur abzukanzeln. Ein subtiler Autoritätsverlust, obwohl der Macho bleibt und die Emanze geht.

Altersmilde zeigt sich der 86-Jährige nie. „Ich, Reich-Ranicki“, hätte auch „Ich bereue nichts“ heißen können. Der Lehrmeister lässt das Lehren nicht. „Ich habe Angst, das zu erzählen, denn dann werden wieder die üblichen Aufnahmen gezeigt“, tadelt er die Filmemacher vorauseilend, als er vom Berlin der späten Zwanzigerjahre erzählt. Die ausgewachsenen Profis gehorchen. Brav verzichten sie auf jene Schwarz-Weiß-Aufnahmen, in denen Menschen immer viel zu zackig an Reklametafeln vorbeieilen.

Strammgestanden haben Hachmeister und Scobel vor dem vermeintlichen Zuchtmeister des Literaturbetriebs nicht. Sie haben entdeckt, wie viel Clown im Dompteur steckt. Und wie viel Schwäche im starken Urteil: Kommentarlos sind sie einem, der aus Sehnsucht nach Anerkennung dem Stoff „deutsche Literatur“ verfallen ist, durch die Suchtkarriere gefolgt.

Ob so ein wahres Bild entstanden ist? „Der wahre Reich-Ranicki kann sich nicht einmal selbst von seiner Inszenierung unterscheiden“, sagt Lutz Hachmeister. Eine der wunderlichsten Szenen zeigt, wie Fußballfans den alten Mann in ihre Mitte nehmen. „Die Hände zum Himmel/ kommt, lasst uns fröhlich sein/ Wir klatschen zusammen und keiner ist allein“, singen sie. Ein Text, der keine Chance hätte, in die „Frankfurter Anthologie“ aufgenommen zu werden. Der Einsame, der Gott samt Himmel für eine literarische Erfindung hält, lächelt schüchtern.
 Sendetermin: „Ich, Reich-Ranicki“, Freitag, 13. Oktober, 22.35 Uhr, ZDF.
© Rheinischer Merkur Nr. 40, 05.10.2006
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