"Gott
ist eine literarische Erfindung“, sagt Marcel Reich-Ranicki. „Es gibt
keinen Gott. Das darf man in Deutschland nicht sagen.“ Der
Gottesverneiner glaubt an Thomas Mann. Als er dieses atheistische Credo
bei den Dreharbeiten ablegt, ist noch keine Rede von kopflosen Opern.
Ein trainierter Debattenübersteher wie Reich-Ranicki ahnt eben
Megatrends.
Der Christ sagen: Hier irrt der
„Literaturpapst“. Dennoch mag sogar manch gläubiger Mensch froh
aufhorchen. Endlich ein Prominenter, der sein Selbstbildnis nicht ins
spirituelle Wellnessbad taucht. Seit der Komiker Hape Kerkeling beim
Pilgern erkannt hat, dass er in einem früheren Leben ein polnischer
Mönch war, der von deutschen Soldaten während des Zweiten Weltkriegs
erschossen wurde, ist die Wiedergeburtenrate unter den Showbiz-Menschen
hoch. Nun darf im deutschen Fernsehen – noch dazu im
Johannes-Baptist-Kerner-Sender ZDF – ein 1920 in Polen geborener Mann,
der in seinem einzigen Leben beinahe von Deutschen ermordet worden
wäre, fast zwei Stunden seine Geschichte erzählen. Eine Sensation!
Schlicht und ergreifend
Gespräche mit Männern um die achtzig bergen
ohnehin Sensationspotenzial. Seit dem „FAZ“-Interview mit Günter Grass
diskutieren die Feuilletons, ob der Nachname des Großschriftstellers
fortan mit Runen-S geschrieben werden muss. Grass – der Täter? Da wäre
es ein Knüller, wenn sich endlich der Großkritiker einmischte.
Doch Marcel Reich-Ranicki, der als Überlebender
des Warschauer Ghettos die Waffen-SS in bitterer Erinnerung hat, tut
Journalisten diesen Gefallen nicht. „Ich, Reich-Ranicki“, heißt der
sehenswerte Film von Lutz Hachmeister und Gert Scobel. Nicht „Ich, das
Opfer“. Sehr ergreifend sei das Porträt, so behauptet der
ZDF-Pressetext news-sehnsüchtig. Aber Hachmeister und Scobel geht es
weder um Tränen vor der Kamera noch um televisionäre Denkmalspflege.
„Es ist ein großer Vorteil, dass ich vor der Arbeit an diesem Film zu
ihm und zum Literaturbetrieb keine Beziehung hatte“, sagt Hachmeister.
Der Außenstehende zeigt einen ehrgeizigen Außenseiter, einen von der
Society gehätschelten Einsamen, ein großes Kind. Die Deutschen
verachteten diesen Jungen, den „dreckigen“ Juden. Als junger Mann hat
er sich deshalb im Ghetto zweimal täglich rasiert. Bis heute rasiere er
sich zweimal täglich, sagt Marcel Reich-Ranicki.
Sein älterer Bruder Alexander wurde im
Arbeitslager Poniatowa erschossen. In seiner Autobiografie „Mein Leben“
erzählte Marcel Reich-Ranicki vom Leid seiner Familie mit klarer,
sezierender Sprache. Wie jemand, der irgendwann beschlossen hat, über
sich zu reden, ohne alles preiszugeben. Seine Gefühlsausbrüche gelten
Autoren und Romanfiguren, nicht seiner Familie. Daran hält er sich, als
er sich vor der Kamera an den toten Bruder erinnert.
Der Film mischt Biografie und Kollage, er lässt
dem Zuschauer die Freiheit, Bezüge herzustellen. Der Protagonist
spricht für sich. Kein Erzähler aus dem Off ordnet das Gesagte ein, nur
die Zeitzeugen kommentieren:Reich-Ranickis Sohn Andrew, der
Schriftsteller Dieter Wellershoff, „Quartett“-Bube Hellmuth Karasek,
„FAZ“-Herausgeber Frank Schirrmacher. Das ZDF hätte gewiss gern
hauseigene Showstars wie Elke Heidenreich oder Thomas Gottschalk als
Laudatoren untergebracht, solchen Zitat-Tourismus macht RTL in seinen
Achtzigerjahre-Shows vor.
Statt Nettigkeitenausteilern haben die
Filmemacher den weniger netten Experten Janusz Tycner vor die Kamera
geholt. Er spricht über jene Kapitel, bei denen Marcel Reich-Ranicki
wortkarg wird:über die Tätigkeit bei der berüchtigten politischen
Polizei Polens, über den Konsulardienst im Außenministerium. Tycner
stellt das Wort „anschwärzen“ in den Raum, dort schwebt es
unwidersprochen.
Im ranickikritischen Zuschauer keimt
Vorfreude:Kippt der Film in einen Richterspruch über den
Buchrichter?Treten nachher Günter Grass, Martin Walser und Sigrid
Löffler als Zeugen der Anklage auf und rächen sich mit frischen
Statements für das, was ihnen der begnadete Selbstinszenierer angetan
hat?Der Film erinnert an legendäre Kontroversen, an zerbrochene
Männerfreundschaften und unzerbrechliche Frauenbilder. Die Gegner
treten jedoch nur als Archivmaterial auf. „Sie waren angefragt – und
haben abgelehnt“, sagt Lutz Hachmeister. „Auch, wenn sie geredet
hätten, wäre aus dem Film keine Abrechnung geworden.“
Suchtstoff Literatur
Die Kollagetechnik verändert den Blick auf
Altbekanntes. Der Streit mit Quartett-Dame Sigrid Löffler etwa
erscheint nicht nur als Abgrenzungsversuch zwischen Erotik und Zotik,
sondern auch als Kampf um die Definitionsmacht. „Ich entscheide, ob
einer zur deutschen Literatur gehört“, sagt Marcel Reich-Ranicki, als
er über seinen Wechsel von der „Zeit“ zur „FAZ“ spricht. Jahrzehnte
später wagt eine Frau, ein von ihm ausgewähltes Buch im Fernsehen als
Nicht-Literatur abzukanzeln. Ein subtiler Autoritätsverlust, obwohl der
Macho bleibt und die Emanze geht.
Altersmilde zeigt sich der 86-Jährige nie.
„Ich, Reich-Ranicki“, hätte auch „Ich bereue nichts“ heißen können. Der
Lehrmeister lässt das Lehren nicht. „Ich habe Angst, das zu erzählen,
denn dann werden wieder die üblichen Aufnahmen gezeigt“, tadelt er die
Filmemacher vorauseilend, als er vom Berlin der späten Zwanzigerjahre
erzählt. Die ausgewachsenen Profis gehorchen. Brav verzichten sie auf
jene Schwarz-Weiß-Aufnahmen, in denen Menschen immer viel zu zackig an
Reklametafeln vorbeieilen.
Strammgestanden haben Hachmeister und Scobel
vor dem vermeintlichen Zuchtmeister des Literaturbetriebs nicht. Sie
haben entdeckt, wie viel Clown im Dompteur steckt. Und wie viel
Schwäche im starken Urteil: Kommentarlos sind sie einem, der aus
Sehnsucht nach Anerkennung dem Stoff „deutsche Literatur“ verfallen
ist, durch die Suchtkarriere gefolgt.
Ob so ein wahres Bild entstanden ist? „Der
wahre Reich-Ranicki kann sich nicht einmal selbst von seiner
Inszenierung unterscheiden“, sagt Lutz Hachmeister. Eine der
wunderlichsten Szenen zeigt, wie Fußballfans den alten Mann in ihre
Mitte nehmen. „Die Hände zum Himmel/ kommt, lasst uns fröhlich sein/
Wir klatschen zusammen und keiner ist allein“, singen sie. Ein Text,
der keine Chance hätte, in die „Frankfurter Anthologie“ aufgenommen zu
werden. Der Einsame, der Gott samt Himmel für eine literarische
Erfindung hält, lächelt schüchtern.